Heike Catherina Mertens

In seiner sich über mehrere Räume erstreckende Arbeit Einen Frieden später verwebt Elmar Hess eine sehr persön­liche Lebens­geschichte mit der Weltgeschichte – Privates wird politisch, Politisches privat.

Der Seemann Harald Thomas aus Rostock legt 1964 mit dem DDR-Frachtschiff „Frieden“ im Hamburger Hafen an und lernt dort Hannah Ewers, eine Mitar­bei­terin der Hafen­be­hörde, kennen. Eine verbotene Liebesgeschichte beginnt, denn Harald ist es als Staats­bürger der DDR nicht erlaubt, mit der jungen Frau aus dem Westen zu sprechen. Über Jahre treffen sich die beiden bei seinen Aufen­thalten in Hamburg, schreiben sich Briefe in den Monaten dazwischen. Eine unbedachte Äußerung Haralds, er werde beim nächsten Landgang in Hamburg bleiben, bringt ihm die Anklage der versuchten Repub­lik­flucht ein. Als sich Harald weigert, der Aufforderung der Staatssicherheit nachzukommen, seine Hamburger Freundin als Infor­mantin zu nutzen, wird er zu Gefäng­nishaft verurteilt. Erst Jahre nach dem Mauerfall sehen sich die beiden wieder.

Parallel zu diesem Mikrokosmos einer Liebesgeschichte, die sich von einem Aufen­thalt der „Frieden“ zum nächsten im Hamburger Hafen entspinnt, findet auf der Makroebene die deutsch-deutsche Geschichte mit ihrem rival­isierenden Beziehungs­ge­flecht zur Weltpolitik statt. Aus Hunderten von Filmbeiträgen aus Wochen­schauen schneidet Elmar Hess ein Panop­tikum der Kriege und der darauf folgenden Friedens­be­mühungen des 20. und begin­nenden 21. Jahrhun­derts zusammen. In dichter Folge zeigt der Künstler Bilder geschichtlicher Abgründe von 1933 bis heute: Auf den Horror des Zweiten Weltkrieges folgt der Warschauer Pakt im Osten, der NATO-Beitritt im Westen und damit verbunden das Wettrüsten und die dazu gehörige Propa­ganda, die den Menschen und seinem Wunsch nach Frieden schnell aus dem Blick verliert. Es ist stets nur ‚einen Frieden später’ und nicht der Frieden selbst. So sehen wir bei aufmerk­samer Betra­chtung immer wieder in den Filmen politische Aufrufe wie „Erkämpft den Frieden“, als sei Frieden mit Waffengewalt zu erstreiten.

Zu den Filmen arrangiert Elmar Hess Bildikonen des Terrors und Grauens: das brennende World Trade Center am 11. September 2001, den geschändete Gefan­genen von Abu Ghraib und das Foto des toten syrischen Jungen Aylan Kurdi am Strand von Bodrum, das in den Medien zum Symbol für die human­itäre Tragödie der heutigen Flüchtlingskrise avancierte.

Diesen Bildikonen stellt der Künstler private Bilder gegenüber. Die Lebens- und Liebesgeschichte von Harald und Hannah wird von ihrer Kindheit bis ins Alter anhand von Fotos und Objekten erzählt, insze­niert in der Tradition des Musée Senti­mental. Durch die Verknüpfung der persön­lichen Geschichte der beiden Liebenden mit der politischen Historie ermöglicht es Elmar Hess nicht nur, die Folgen politischer Entschei­dungen auch emotional, gewisser Maßen hautnah zu erfahren, sondern – was viel wichtiger ist – er zeigt auf, dass Geschichte kein abgeschlossener Vorgang ist. Die Geschichte lässt sich nicht in wissenschaftlichen Abhand­lungen und Schul­büchern abhaken. Geschichte verläuft nicht linear, sondern prozessual und unter­liegt einer ständig neuen Inter­pre­tation derjenigen, die sich ihr widmen. So wie sich jede persönlich gemachte Erfahrung in unser Gedächtnis und in unseren Körper einschreibt, so werden auch die Erfahrungen von Krieg und Zerstörung, von Verlust und Tod von einer Gener­ation auf die nächste übertragen und bedingen unsere Handlungen und Entschei­dungen im Hier und Heute. Der prozes­suale Charakter der Geschichte und ihrer Inter­pre­tation findet in der Assem­blage-Technik von Elmar Hess eine Entsprechung. Der Künstler setzt historische Filmzeug­nisse neu zusammen und öffnet uns als Betra­chter so den Blick für die Zusam­men­hänge und Beziehungen zwischen den historischen Ereignissen. Politisch wie privat bedingt eben alles einander und nichts steht isoliert. Das gilt ganz besonders für unsere heutige, global­isierte Welt.

Der wohl wesentlichste Punkt in der Arbeit Einen Frieden später aber ist das Bild selbst, das Elmar Hess facetten­reich in Frage stellt. Nichts in diesem Werk ist authen­tisch und doch ist alles, was man sieht, realis­tischer als die Realität selbst. Die Fotografien, die Briefe und Dokumente, die in der Ausstellung zu sehen sind, sind anders als in einem Musée Senti­mental eben keine zusam­menge­tra­genen, gefun­denen Objekte, sondern von Künstlerhand erschaffene Werke. Selbst die Geburt­surkunden sind im Atelier entstanden. Und doch könnten sie authen­tisch sein und alles hätte genauso stattfinden können wie Elmar Hess es erzählt; ja mehr noch: die Geschichte von Harald und Hannah ist hundertfach so oder ähnlich vorgekommen.

Elmar Hess liefert mit Einen Frieden später ein Lehrstück des Selbst Sehens und der kritischen Wahrnehmung. Künstler sind Spezial­isten in Bezug auf die visuelle Perzeption. Sie öffnen uns die Augen und lehren uns das Wesentliche hinter der Oberfläche zu sehen. Elmar Hess weist einmal mehr darauf hin, dass wir die Bilder unserer Medienge­sellschaft auf ihre Glaub­würdigkeit hin hinter­fragen müssen; dass wir den Worten und der Musik, die über diesen Bildern liegen, besondere Aufmerk­samkeit schenken müssen und sie auf ihren Wahrheits­gehalt hin überprüfen sollten.

Und natürlich – auch das ist eine Konti­nuität im Werk von Elmar Hess – geht es um die Liebe. Die Liebe ist es, die unsere Sehnsucht nach Freiheit weckt und die beständig unsere Hoffnung auf Frieden nährt. Eine positive Botschaft in einer Zeit, in der mehr Menschen auf der Flucht vor Krieg und Verfolgung sind als jemals in der Geschichte der Menschheit zuvor.

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