Stephan Schmidt-Wulffen
Narrenschiffe waren im Barock eine poetische Form psychiatrischer Zwangsmaßnahmen. Arthur Rimbaud verwandelte sich 1871 in ein solches, als er sein Gedicht Le Bateau ivre schrieb. Im Debütwerk von Elmar Hess, dem Film Kriegsjahre von 1996, offenbarten sich ähnliche Symptome. Der diagnostische Blick, über die Jahrhunderte mit künstlerischem Delirium geschult, stieß denn auch bald auf den bekannten Krankheitsherd: „Die bittre Liebe ließ zu starrem Rausch mich schwellen.“Die Kriegsjahre von Elmar Hess sind allerdings entlarvend, was das Verhältnis von Ursache und Wirkung angeht. Im Unterschied zur paranoia vulgaris sucht sich im Film der Rausch des Künstlers die Bitterkeit der Liebe. Und das Gefühl des Abschieds entsteht nicht nur, wenn die im Phantasma zur ‚Fregatte‘ gesteigerte Xanthippe endlich versenkt ist, sondern weil in diesem Film der moderne Künstler gleich mit untergeht. In Kriegsjahre ist Elmar Hess im doppelten Sinn ein ‚Schauspieler’: Er schlüpft nicht nur in die Rolle des Egomanen, dessen schöpferische Ambitionen ein Alibi für Weltfremdheit sind; der Film erlaubt ihm auch noch einmal, sich den Mantel des Künstlerfürsten umzulegen. Die Struktur dieser Paranoia konstruiert der Film in unkannter Detailfülle und bis zum bitteren Ende. Das Ego verliert nach und nach jede Maßstäblichkeit. Immer mehr Sprecher besetzen das Hirn, immer willkürlichere Bilder müssen die Ansprüche der Realität zurückdrängen. In den Orts- und Epochensprüngen bemerkt der Betrachter einzig von Ferne die Regungen des weiblichen Gegenübers, dessen Äußerungen nur noch als „Störfrequenzen“ wahrgenommen werden. Schließlich führt die Zwangsvorstellung aus den Filmarchiven zusammengeborgte Heerscharen gegen das verhasste Realitätsprinzip. Auf dem Hintergrund leidenschaftlicher Erregtheit und psychologischer Überaktivität entsteht ein systematisiertes, kohärentes Delirium ohne Halluzinationen, das in einem pseudo-logischen Zusammenhang die Themen Größe, Verfolgung und Rechtsansprüche herauskristallisiert. So definiert Michel Foucault die Paranoia in Die Geburt der Klinik, ohne zu ahnen, dass er damit auch ein Charakterbild des manisch Modernen liefert.
Veit Görner
In seinem Film Kriegsjahre schaltet eine Phantasiekaskade geschichtlicher Ereignisse mit dem individuellen Drama gleich. Nationalsozialistische und alliierte Kriegsstrategien des zweiten Weltkriegs mit Anspielung auf die Führerfiguren Hitler und Churchill bilden den fiktionalen historischen Fonds, Szenen aus dem eigenen, inszenierten Beziehungsclinch und seine Vorliebe für Ozeandampfer geben den subjektiven Hintergrund. In den beiden Handlungssträngen werden Egomanie und Größenwahn, Individualität und Systemzwang einander gegenübergestellt. (…)
Barbara Steiner
Kriegsgeschwader, Flieger, Propellermaschinen, Bombenabwürfe zeigen ein Geschehen, das an den Zweiten Weltkrieg erinnert. Schnitt: Eine Einkaufspassage. Passanten sind verschwommen sichtbar, aber man kann keine Details erkennen. Der Filmtitel – Kriegsjahre – wird eingeblendet. Eine rothaarige Frau schält sich aus der Menschenmenge. Das U‑Bahnschild „Landungsbrücken“ verweist auf Hamburg als Ort des Geschehens, Hamburg. Die Geschichte des Films handelt von einem Beziehungsdrama: Ein Mann und eine Frau – Im Drehbuch: E und J.
Szenenwechsel: Ein Frühstückstisch, auf dem gestapelte Toastbrote wie Hochhäuser einer großen Stadt emporragen. Ein (Spielzeug-) Zug fährt durch die Frühstückslandschaft, am einen Ende sitzt E, am anderen J. Sie erprobt verschiedene Mützen und entscheidet sich für eine Generalitätsmütze; der Krieg zwischen den Geschlechtern beginnt. Der persönliche Konflikt zwischen E und J wird auf die Bühne des weltpolitischen Geschehens übertragen – J schlüpft in die Rolle von Adolf Hitler, E in jene Winston Churchills. Dieser Rollenwechsel wird jedoch im Laufe des Films nicht unmittelbar ausgesprochen, sondern nur assoziativ angedeutet, wobei allgemein bekannte Zeichen für die jeweiligen Kriegsparteien stehen.
Elmar Hess wechselt permanent die Zeitebenen – einmal befinden wir uns in den 1990er Jahren, das andere Mal in den Vierzigern; entsprechend den historischen Ereignissen werden Schwarz/ Weiß- und Farbfilm eingesetzt.
Unterschiedlichste Quellen bilden die Ausgangsbasis für Elmar Hess: Auf der inhaltlichen Ebene werden zwei Erzählstränge zusammengebunden – das weltpolitische Geschehen der 1940er Jahre und jenes des subjektiven Beziehungsdramas. Auf filmtechnischer Ebene entspricht dies dem Prinzip von Schnitt, Montage und Überblendung. Techniken, die Zeit- und Ortssprünge erst möglich machen. Hess verknüpft die einzelnen Teilstücke so, dass der Eindruck eines kontinuierlichen Ablaufs mit Rückblenden, die der Erinnerung dienen, entsteht. Mitunter wird der inhaltliche Zusammenhang nicht sofort deutlich, wie es zu Beginn des Films der Fall ist. Zunächst ist man in eine Kriegshandlung verstrickt, die nach Wochenschaubericht anmutet; der kurz darauf eingeblendete Titel „Kriegsjahre“ scheint dies noch zu bestärken. Dann bewegt sich die Protagonistin des Films, J mit einem Tortenkarton in der durch die Stadt. Erst die Szene am Frühstück-Tisch macht klar, dass die persönliche Ebene mit der historischen verquickt wird.
Hess nutzt für Kriegsjahre viele Gattungen, die ihm die Filmgeschichte zur Verfügung stellt: Hauptsächlich werden der Dokumentarfilm, in der Gegenwart manchmal im historischen Sinne weitergedreht und absurd verfremdet, und der Kriegsfilm, der das heldenhafte Verhalten von Siegern und Verlierern in entsprechender Dramatik zeigt, verwendet. Elmar Hess braucht seine Geschichte nicht neu zu erfinden, er bedient sich eines bekannten historischen Repertoires. Nach dem Prinzip der Montage werden verschiedene Realitätsfragmente in einen neuen Sinnzusammenhang gebracht. Die historische Besetztheit eines tabuisierten Materials wird für die eigene Geschichte verwendet, jedoch anders gewichtet. Eine Generation, die den Krieg nur vom Hörensagen kennt und bereits von einer jahrzehntelangen filmischen und fotografischen Rezeption geprägt ist, deren Welterfahrung bereits eine gesampelte ist, wirft zwangsläufig einen anderen Blick auf ein Geschehen, das selbst nicht authentisch erlebt wurde: Der Zweite Weltkrieg, und im Besonderen die Person Adolf Hitlers, sind mittlerweile auch Medienrealität geworden, ein (männliches) Feindbild, das für das Böse schlechthin steht. Hess nutzt in erster Linie diese sekundäre, mediale Besetztheit für die persönliche Geschichte, ohne die Tragik der Ereignisse aus den vierziger Jahren aus den Augen zu verlieren. Elmar Hess projiziert das deutsche Feindbild schlechthin auf seine Partnerin, ein Bild, das jedoch vor allem geprägt ist durch mediale Vermittlung. Deshalb mag Winston Churchill auch mehr an Orson Welles erinnern als an die authentische historische Figur, mit ein Grund, warum die historischen Namen nie wirklich ausgesprochen werden. Die realen Personen werden durch eine Vielzahl von Filmfiguren entscheident überlagert, bis kaum mehr etwas von ihnen übrig bleibt. Elmar Hess operiert mit bekannten Bildern, die er bereits als aufbereitete vorfindet und verarbeitet: die Ausstellung Entartete Kunst, die Jalta-Konferenz – E posiert mit seinen Exfreundinnen vergleichbar dem berühmten Foto der damaligen Staatsmänner, das um die Welt ging – um nur zwei Geschehen herauszugreifen, die besondere mediale Bedeutsamkeit erlangt haben.
Hess macht sich den Bekanntheitsgrad dieser Ereignisse zu Eigen und setzt sie als Zeichen für die Konstruktion seiner eigene Geschichte ein, die letztlich aber genauso fiktiv bleibt wie die historische Überliefertheit des Materials. Historische ’Fakten’ werden zu einer persönlichen Geschichte montiert, ohne ihre Grundkonnotation zu verlieren. Elmar Hess eignet sich bereits existierende Muster an, aber um dies überzeugend tun zu können, muss er sich über deren Inhaltlichkeit und Struktur sehr wohl im Klaren sein. Er instrumentalisiert ein schweres Erbe der deutschen Geschichte, adaptiert Bilder und lässt sie in seine eigenen einfließen: kollektive und individuelle Aspekte vermengen sich permanent. Damit stellt der Künstler die Frage nach der eigenen Identität und auch nach der Authentizität von Erfahrung, die wir – im Gegensatz zur Kriegsgeneration – nicht mehr haben können. Die persönliche, einzigartige Erfahrung, die unikale Geschichte, die das Subjekt konstituiert, gerinnt zur Fiktion. Elmar Hess bedient sich überlieferter historischer Codes, um einen Blick auf Geschichtskonstruktionen – der eigenen und der fremden – zu werfen und zugleich zu entlarven.
Nikolaus v. Wolff
Mit dem Film und der Ausstellung Kriegsjahre von Elmar Hess wurde 1996 ein Tabu gebrochen: Totalitarismus erschien erstmals als bloßes Bild, Krieg als brachial-reales Symbol. Während militärisch überformte Landschaften in populären Shooter-Spielen gerade zum Dekor wurden, kämpften sie in Kriegsjahre vehement um ihre Bedeutung – als Metaphern eines neuen Kontexts.
Die Protagonisten in Kriegsjahre sind eingebunden in die gefräßige Maschinerie eines nach innen verlagerten Krieges, der im Vakuum tobt zwischen sozialen, historischen und dinglichen Beziehungen. Sie sind entweder Figuren, die sich wie Zerrbilder historischer Gestalten bewegen (so wie Churchill auf einem fast kenternden Tretboot), oder sie sind nur Körper, die wie eine rotierende Mechanik in die Kriegsmaschinerie eingebunden sind. Die wenigen Individuen, die zu Wort kommen, sprechen phrasenhaft, sind Wiederkäuer vorgeformter Doktrinen und Betrachtungsweisen.
In Kriegsjahre kann man der Ambivalenz von Metaphern folgen, der taktischen Verwandlung von Zeichen, und damit auch der Paralyse historisch definierter Bedeutungen. Die Zerschlagung von Proportionen und physikalischen Zwängen im virtuellen Raum lässt die Objekte freischwebend werden und entgrenzt ihre Lesbarkeit. Elmar Hess erweitert diesen Gravitationsverlust zu multiplen Schichtungen in einem erzählerischen Konstrukt mit offenem Ende. Der Film zeigt sich als Schlachtentableau an den Grenzen privater, sozialer und narrativer Zuordnung. Hess’ Arbeit reflektiert dabei auch das Drama der Objektentfremdung und karikiert in poetisch-allegorischer Weise das Beziehungsvakuum, das sich rund um die Dinge ausbreitet. Ein Stück Sachertorte wird zum Transportobjekt, riesenhaft durch die Seriosität der kommentierenden Sprache, verschoben durch die Miniatur, die Modelleisenbahn, platziert zwischen Toastbroten, erspäht aus der Kanzel eines Bombenflugzeugs; glanzlose Gegenstände, wie Gabeln oder Tassen, fügen sich in die Montage historischer Kriegsaufnahmen ein. Gerade weil das Augenmerk auf den Dingen beharrt, bemerkt man sehr präzise den Verlust ihrer Bedeutung: wenn sich das gemeinsame Essen und Trinken, als ältestes Ritual überhaupt, loslöst von den Gegenständen, die es benötigt. Wenn die Dinge sich sperren gegen das lebendige Ritual, das mit ihnen verknüpft ist: tarnfarbene Tassen neben Thermoskannen, die zur Architektur erstarrt sind und zur Ölraffinerie werden. Oder wenn umgedrehte Salatschüsseln zu Ruhmeshallen und rustikale Kerzenleuchter zur monumentalen Allee werden; es sind Streifzüge, Überflüge und Momentaufnahmen einer entseelten Dingwelt.
Hess unternimmt nicht den Versuch, die Präsenz des Historischen und seiner Objekte zu reanimieren. Die Protagonisten und Dinge werden stattdessen mitgerissen von einem Stakkato tradierter Erzählformate (Kriegsberichterstattung, Abenteuerbericht, Rückblick), wo die Menschen in die geistigen Quergänge professioneller Kommentarstimmen gedrückt werden.
Kriegsjahre zeigt ein Beziehungsdrama als Tableau sozialer Landschaft, in der die menschlich-körperlichen Beziehungen durch den autonomen Verlauf einer (Kriegs-)Maschinerie ersetzt werden. Auch wenn sich drei Darstellerinnen und der Protagonist in der Küche einer Wohngemeinschaft zur ‘Konferenz der Verbündeten’ treffen, um anschließend in einer Adaption des berühmten Fotos von Jalta zu posieren, entlässt die dominierende Kommentarebene des Sprechers die Menschen nicht eine Sekunde aus dem System.
In provokativ-grotesker Analogie offenbart der Geschlechterkonflikt in dem Film eine Konstellation, dessen Konflikte Resultat systembedingter Zugkräfte sind. Konventionen und ornamentale Vorgaben treten an die Stelle selbstbestimmten Handelns. Eine Frau (im Film dargestellt von Jeanette Schulz) und ein Mann (dargestellt von Elmar Hess) mutieren zu Hitler und Churchill, bleiben aber letztlich nur marionettenhafte Ausprägungen eines übergeordneten Vorgangs. Wenn die ‘Diktatorin’ die Ausstellung Entartete Kunst in Kriegsjahre abschreitet oder sie sich im Halbdunkel auf einer Schaukel über einer monumentalen Geisterstadt bewegt, dann agiert sie nicht als Individuum, sondern changiert in den hohl werdenden Zwischenräumen von historischer Katastrophe und modischer Inszenierung. Nicht die Geschlechter führen Krieg in Kriegsjahre; es ist der Krieg selbst, der die Geschlechter gegeneinander führt. Madonnas Justify my Love, das gegen Ende des Films zu hören ist, wirkt dabei wie die Parodie auf ein Wunschbild. Im Gesamtzusammenhang erscheint der Song ebenso als ironisches Ausstellungsstück wie Churchills Parole „…Our faith will rise again“. [1] Das bedrängte Individuum bekommt bei Hess groteske, tragikkomische Formen: Der Originalton einer Rede Churchills legt sich über die beschwörende Gestik des Protagonisten, der auf seinem Boot am Horizont verschwindet: „We are sure that in the end all will be well.“
Der Film Kriegsjahre ist ein komplexes Geflecht aus verschobenen, teilweise nuancierten Zeichen, deren Mythologien tief verwurzelt sind, wie der Ozeanriese, der zum Strauss-Walzer auf einem Alpensee zur Reparatur eintrifft. Elemente addieren sich wie in einer Klangfolge zu irritierenden, dissonanten Akkorden. Die Folge dieser Akkorde, das Pendeln zwischen formaler, inhaltlicher und ästhetischer Verschiebung, bildet die Dramaturgie des Films weit mehr als die angedeutete Geschichte im Vordergrund. Dabei bezieht die Montage Zitate ein, in denen die totalitären Inszenierungen des 20. Jahrhunderts wie Chiffren erscheinen. Elmar Hess macht mit dieser Methode bewusst von der unvermeidlichen Mobilität historischer Zeichen im Zeitalter digitaler Verfügbarkeit Gebrauch. Aber mit Kriegsjahre hat er eine scharfe Grenze zur Beliebigkeit gezogen.
Anmerkung:
[1] Winston Churchill: The Fall of France; Radioansprache, 17. 6. 1940