…Welch zerstörendes, wüstes Leben um mich her! Nichts als Trommeln, Kanonen, Mensch­enelend aller Art.

So nehme ich denn Abschied von dir, und zwar traurig, geliebte Hoffnung, die ich mit hierher nahm. Selbst der hohe Mut, der mich oft in den schönen Sommertagen beseelte, er ist verschwunden. Lass einmal einen reinen Tag der Freude mir erscheinen. So lange schon ist der wahren Freude inniger Widerhall mir fremd. 

Ich wollt’ es wär’ noch einmal in der früh’; und in Frieden!” *

Obwohl vor über 200 Jahren formuliert, ließe sich nur wenig treffender als in diesem Textlaut wohl auch manche Situation und menschliche Befind­lichkeit aus der Gegenwart ausdrücken, allem voran vielleicht die Verzwei­flung und die verge­blichen Hoffnungen derer, die auf der Flucht vor Krieg und Vertreibung vor den Toren Europas ums Überleben kämpfen.

Der Urheber des Textes, Ludwig van Beethoven, hatte Europa, das sich aktuell nicht nur in Flüchtlings­fragen schwer tut Einigkeit zu finden, einst noch posthum mit einem musikalischen Motiv zu einem identitätss­tif­tenden Moment verholfen. Und seine heute als Europahymne genutzte Kompo­sition aus dem letzten Satz der 9. Symphonie, als “Song of Joy” weltberühmt geworden, gilt auch über die EU-Grenzen hinaus als Synonym für Völkerver­ständigung schlechthin.

Beethovens gedanklich eng mit Human­ismus verbun­denes Werk stellt die Instal­lation “Continued Symphony” einem Ereignis aus der Flüchtlingskrise gegenüber, das sich unlängst im Mittelmeer abspielte: mit der Rettung von Schiff­brüchigen durch das Schiff “Sea-Watch 3” und dessen Kapitänin Carola Rackete. Vor dem Hinter­grund der Bilder aus dem Sommer 2019, schildert die Arbeit Beethovens einstige Vision von einer Welt, “in der die Menschheit ihrer Würde gemäß behandelt wird”* als aktueller und sinnnotwendiger denn je.

Das Geschehen rund um die Seenotrettung der “Sea-Watch 3” schildert die Instal­lation ferner als Teil eines human­itären Dramas, das sich nahe jener Gegend abspielt, die in der Antike Wiege von Philosophie, Human­ismus und der demokratischen Staatsform war. Es sind die Ideale, auf die sich heute nicht nur die EU stützt, sondern auf die sich auch schon jene historische Periode zurück besann, in der Beethovens Schaffen begann, die der Wiener Klassik. Doch ist es im Augen­blick eher nicht die EU, als vor allem ein Teil einer jungen Gener­ation, der im Sinne alter Ideale handelt. Und die Flüchtlingsrettung durch Carola Rackete scheint dabei alle Zutaten einer klassischen Tragödie zu vereinen, die in manchem Detail an die in Beethovens Libretti mehrfach zitierte Dichtung Schillers erinnert: Kein europäisches Land will die Flüchtlinge der “Sea-Watch 3” aufnehmen. Tagelang ringt Carola Rackete mit der Überlegung, mit den Geretteten den Hafen von Lampedusa anzulaufen – entgegen des ausdrück­lichen Verbots der italienischen Regierung. Bei Zuwider­handlung droht der Kapitänin eine langjährige Haftstrafe. Allen Andro­hungen zum Trotz aber beschließt Rackete aufgrund der human­itären Zustände an Bord die italienische Insel anzus­teuern. Dort angekommen, wird sie verhaftet, doch die Flüchtlinge können an Land gehen. Am Ende ist das Wichtige”, sagt Rackete, “dass wir 53 Menschen retten konnten und in einen sicheren Hafen gebracht haben.” **

Racketes Handlung verdeut­licht Werte, die auch Beethoven zeitlebens verein­nahmten. “Wann wird der Zeitpunkt kommen, wo es nur ein Menschsein geben wird. Wir werden wohl diesen glück­lichen Zeitpunkt nur an einigen Orten heran­nahen sehen. Aber allgemein, das werden wir nicht sehen, da werden wohl noch Jahrhun­derte vorübergehen”*, schreibt er 1795 an seinen Jugend­freund Heinrich von Struve.

Beethoven, in seinem Schaffen von der Musik des Sturm und Drang prägend mit beein­flusst, gilt zugleich als Wegbreiter der Romantik. Und nur Weniges spiegelt wohl ein zentrales Motiv dieser beiden Epochen – das Motiv des tragischen Scheiterns – eindringlicher in der Jetztzeit wider, als die Bilder aus dem Mittelmeer und im Beson­deren die eines außergewöhn­lichen Friedhofs in Tunesien, den die Instal­lation “Continued Symphony” ebenfalls thema­tisiert: An der tunesischen Küste werden jedes Jahr hunderte ertrunkener Flüchtlinge angespült. Mit Begräb­nissen versucht ihnen ein Mann, Chemseddine Marzoug, Respekt zu zollen. Mehr als 350 Leichen hat er bisher auf seinem “Friedhof der Unbekannten” begraben, auch viele Kinder – die human­is­tischen Ideale Europas scheinen für sie jenseits der EU-Grenzen zu enden.

Neben einer filmischen Darstellung des Friedhofs und den Ereignissen rund um die Flüchtlingsrettung durch Carola Rackete bildet den Mittelpunkt der Instal­lation “Continued Symphony” eine Landkarte von Europa. Auf ihr verteilt stehen kleine Tafeln mit Noten aus der Partitur des letzen Satzes von Beethovens 9. Symphonie. Es sind die einzelnen Orchester­stimmen der Kompo­sition wie Violine, Bass, Bläser­stimmen u.a. Auf der Karte sind die Parti­turteile so verteilt, dass sie einzelnen Staaten zugeordnet werden können.

Akustisch aufge­griffen werden die Parti­turstimmen durch die Einspielung einer Orchester­probe zu Beethovens 9. Symphonie: Der Reihe nach proben einzelne Musiker mit ihrem Instrument einen Teil ihrer Instru­menten­stimme. Schließlich stimmt das Orchester gemeinsam die Symphonie an – gleichsam wie die Kompo­sition Beethovens nur im kooper­a­tiven Zusam­men­wirken aller Musiker zu ermöglichen ist, lässt sich, wenn überhaupt, auch für das Flüchtlings­drama im Mittelmeer nur in Kooper­ation aller EU-Staaten eine human­itäre Lösung finden.

Anmerkung:
* Beethoven, Brief an Heinrich von Struve, 1795
** Rackete, Interview, 2019

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