Stephan Berg
Elmar Hess geht aufs Ganze. Und das heißt: Da macht einer wirklich ernst mit der Idee, dass man aus der radikalen und obsessiven Konzentration auf das eigene Ich, dessen Geschichte(n), Sehnsüchte, Konflikte, Träume und Ängste eine Form der Welthaltigkeit gewinnen kann, die uns etwas Allgemeingültiges, etwas über das Private hinaus Weisende sagen kann.
Das ist riskant, weil es in seiner Mischung aus notwendigem Größenwahn, Selbststilisierung und schonungsloser Offenheit natürlich angreifbar ist, aber auch unbedingt großartig, weil es jede political correctness vermissen lässt und zudem – in der Behauptung von der realitätsbildenden und ‑verändernden Kraft des Persönlichen – den heißen Kern jedes künstlerischen Tuns berührt. (…)
Mit La Mère Perdue, der bislang aktuellsten Arbeit in diesem bildmächtigen Œuvre, hat Hess im Reigen seiner Parallelführungen subjektiver und allgemeingültiger Wert- und Verlustbilanzen ein eher stilleres, gerade deswegen aber besonders eindrückliches Werk realisiert. Über eine Folge von vier multimedial inszenierten Räumen, die wie Kapitel ineinander greifen, entfaltet der Künstler drei vielfältig verknüpfte Parallelgeschichten. Die ersten zwei Räume widmen sich der Reise der Mona Lisa, die 1962 an Bord des Ozeandampfers France zu einer Ausstellung ins Metropolitan Museum of Art in New York gebracht wurde und dort, bewacht von jeweils zwei Militärpolizisten, Besuchermassen anzog. Der dritte Raum zeigt als Super-8-Film einen Kindergeburtstag Anfang der 1970er Jahre. Allein zu Hause packt ein Junge ein Geschenk aus, das für ihn von den auf einer Dienstreise weilenden Eltern auf dem Wohnzimmertisch hinterlassen wurde und sich als Modellbaukasten der France entpuppt. Im vierten Raum findet sich das fertig gebaute Originalmodell des Schiffes in einer Vitrine wieder, die ebenso wie die Mona Lisa von zwei Militärpolizisten bewacht wird. Parallel sehen wir auf einem Monitor eine Luftaufnahme der France auf ihrer letzten Reise zum Abwracker. Aus einem Flugzeug schaut der vom Künstler gespielte Erzähler auf die Szene, die gleichzeitig zum Auslöser für seine Erinnerung an den einsamen Geburtstag wird, an dem der Modellbausatz der France als emotionaler Rettungsanker fungierte. Die existenzielle Dimension der Beziehung des Jungen zu diesem Schiff wird noch dadurch verstärkt, dass er von seiner Mutter später erfährt, dass die France – unrentabel geworden – genau an seinem Geburtstag aus dem Verkehr gezogen wurde.
Schiffe spielen in Elmar Hess‘ Werk eine tragende Rolle. In Gestalt der United States (Relation Ship), der Queen Elisabeth 2 oder eben der France sind sie nicht nur Metaphern für eine untergegangene, glanzvolle Zeit, sondern auch ein ästhetischer Gegenentwurf zu einer von Systemzwängen und der normativen Kraft des Faktischen beherrschten grauen Realität und damit auch Ausdruck einer Sehnsucht des erzählenden künstlerischen Ichs. Auf der Jungfernreise der France sang Juliette Gréco, für die Bar de l´Atlantique hatte Picasso Keramiken gefertigt, und es traf sich die künstlerische Elite von Salvador Dalí bis Andy Warhol und Tennessee Williams auf dem Schiff.
Die Parallelisierung, die der Künstler zwischen sich und den Schiffen betreibt, die er rauminstalltiv und in virtuos gegeneinander geschnittenen Montagen von Reenactments und Found-Footage-Material wiedererstehen lässt, geht bisweilen so weit, dass er sich selbst in ein Schiff verwandelt. Mit dieser Anthropomorphisierung und Beseelung der Dingwelt berührt die Bildsprache des Künstlers auch Aspekte des mythischen Denkens und macht zugleich die innere Verwobenheit des Werks mit sich selbst deutlich. Der Titel La Mère Perdue ist in diesem Zusammenhang einerseits auf das Wortspiel mit dem französischen Gleichklang von Mer (Meer) und Mère (Mutter) angelegt und verknüpft zugleich beide Begriffe mit einer unaufhebbaren Verlusterfahrung. Die abwesende Mutter, der ein Schiffsmodell bauende Junge und das auf seiner letzten Meerfahrt befindliche Schiff als Alter Ego des Künstlers werden zu sich überlagernden Elementen eines Verweissystems, das eine existenzielle Lücke umkreist und gegen diese elementare Leere sein ganz eigenes Wertesystem setzt.
Die Gleichsetzung zwischen der Mona Lisa und dem kindlichen Modellbausatz der France bringt dieses Verhältnis auf einen provokativen Punkt: Auf der einen Seite die lebensprägende subjektive Bedeutung eines einsamen Kindergeburtstages. Auf der anderen Seite der kulturell scheinbar objektivierbare Wert von Leonardo da Vincis Mona Lisa. Beide verbunden durch die bereits dem Untergang entgegenfahrende France, die hier zum realen und symbolischen Transporteur von allgemeinen kulturellen Werten auf der einen, und einer autobiografischen privaten Erfahrung auf der anderen Seite wird. (…)